Dr. Martin Tschechne: Porträt Gerhard Moll, Maler
Glück gehabt!
Außenseiter und Wegbereiter der jungen Kunst: der Berliner Maler Gerhard Moll
Jedes Schicksal hat sein Gegenbild. Jede Geschichte öffnet einen Raum, sie auch ganz anders zu erzählen. Selbst eine anhaltende Katastrophe, ein Krieg, eine Seuche, bietet dann und wann einen Ausblick auf bessere Zeiten. Neues entsteht. Denn jedes Ereignis, jede Entwicklung, jeder Lebensweg – alles unterliegt einer Interpunktion, die das Geschehen in ein Vorher und ein Nachher gliedert, in Ursache und Wirkung, Zufall, Irrtum, Absicht, Koinzidenz und Strategie. Wer setzt diese Zeichen? Auf welcher Basis von Wissen und Nichtwissen? Und in welcher Absicht?
Das erste Bild, mit dem der Maler Gerhard Moll auf sich aufmerksam machte – als Maler, nicht mehr als gelehriger Schüler der Berliner Kunstakademie, an der er sich ein paar Jahre zuvor eingeschrieben hatte: War es wirklich nur der Aufschrei eines Menschen in höchster Verzweiflung? Oder nicht auch schon das frühe Meisterwerk eines Künstlers, der soeben entdeckt hatte, wie sehr Kunst und Zeit einander bedingen? Wechselseitig, versteht sich. Welche Kraft der Argumente sich in einer Komposition entfalten lässt, wie dynamisch Farben, Linien und Formen einen Diskurs vorantreiben konnten…
Moll war gerade 22, einer, der seine Lehre als Automechaniker abgebrochen hatte, um sich der Kunst zu widmen, als ihn der Ruf zum Militär ereilte. Marine. 1942, Deutschland im Krieg. Der junge Mann hatte Angst. Er war Pazifist. Hatte sich schon vor dem Krieg im Widerstand gegen den Nationalsozialismus engagiert. War also aktenkundig. Man wusste Bescheid über ihn. Solche wie er gaben gutes Kanonenfutter. Ein enger Freund, Eugen Neutert, sollte im Jahr darauf als Gegner des Regimes hingerichtet werden. Jede Befürchtung hatte höchst reale Ursachen. Was sollte er tun?
Er verweigerte den Befehl. Er spielte verrückt. Er flippte aus. Wahrscheinlich hatte er ein Mordsglück, dass man ihn nicht gleich erschossen hat.
Aber was für ein Glück war das?
„Moll war schweigsam“, schreibt Jutta Zimmer, die Lebensgefährtin seiner späteren Jahre, seine Beschützerin. Sie beschützte ihn vor dem Leben, dem Geldverdienen, vor Handwerkern, die an der Heizung seines Dachateliers herumflicken mussten, vor den Aufdringlichkeiten des Kunstbetriebs. Später wurde sie zur Hüterin seines Nachlasses. „Am Tage skizzierte er spielerisch vor sich hin, gegen Abend zog er sich ganz zurück und fühlte in sich hinein. Er arbeitete nachts bis ins Morgengrauen, wenn die Stadt schläft.“ Seine Kollegen, von denen manche in der Berliner Nachbarschaft lebten, in Friedenau, bekamen kaum etwas mit von ihm. Sie sahen, wenn nachts das Licht bei ihm brannte. Meist genügte das als gutes Zeichen.
Er war starker Raucher. Sagt das schon etwas aus über ihn? Er hatte einen Sohn. Eine frühe Ehe war geschieden worden. Er lebte zurückgezogen, hoch oben über den Dächern seines Stadtteils, Bezirk Schöneberg, alter Westen. Er verdiente kaum Geld und brauchte fast nichts. Er las die Zeitung und hörte Radio. War sehr gut informiert. Er kränkelte, vielleicht, weil er zu viel rauchte und auch sonst wenig auf seine Gesundheit achtete. Er besaß ein Fernrohr. Von Zeit zu Zeit holte er sich ein Stück Sternenhimmel ins Atelier.
Sein Mordsglück war gewesen, dass sie ihm sein Theater geglaubt hatten: Der Mann ist ja wirklich verrückt! Also ab in die Nervenabteilung des Marinelazaretts in Stralsund. Weggesperrt mit den in Schrecken und Angst Erstarrten, den Zerrissenen, Verzweifelten und Trauernden. „Angesichts der Zustände, die dort herrschten“, so notierte er zehn Jahre später, 1952, in einer biografischen Skizze, „hundert Geisteskranke in einem verschlossenen Saal, die von den Pflegern auf die brutalste Weise misshandelt wurden, erlitt ich einen Nervenzusammenbruch.“
So entstand das Bild, von dem aus sich über vier Jahrzehnte, bis zu seinem Tod kurz vor Weihnachten 1986, ein Werk entwickelte, das die Zeitläufte immer neu in den Fokus nahm. Immer wieder aus anderen Perspektiven, oft aus mehreren zugleich. Von direkter, politischer Teilnahme, die Antenne des Weltempfängers ausgefahren, bis zu abgehobener Distanz hoch über den Dächern der Stadt. Figuration und Abstraktion, organische Formen und die rationalen Raster der Geometrie, üppige Farbigkeit und strenge Reduktion – aber immer frei unter den Sternen, nur der Kunst verpflichtet. Er hatte sich sehr bewusst dorthin zurückgezogen.
„Heilstätten Stralsund“ ist solch ein Gemälde, dessen Perspektiven zu erkunden sind, seine künstlerischen Absichten, seine Aussage: Öl auf Leinwand, gemalt 1943 unter dem unmittelbaren Eindruck der epochalen Katastrophe. Menschen in gestreifter Anstaltskleidung, beladen, gebeugt und gebrochen, die Hände in hilfloser Resignation vor das Gesicht geschlagen und unfähig, irgendeine Art von Verbindung zueinander aufzunehmen. Geschweige denn zu einer Welt außerhalb ihrer giftgelben Mauern. Eine Raumflucht, die kein Ende zu haben scheint und doch ihre lastende Ausweglosigkeit auf den Betrachter überträgt.
Aber ob es ihm allein um das Abbild ging, um das Anekdotische einer Reportage? Zweifel sind angebracht. Moll hatte die Expressionisten studiert und ihre Kunst begriffen – und hatte nicht auch bei ihnen jedes Porträt, jedes Interieur und jede Badeszene am See vor allem eine Aussage über den Menschen schlechthin formuliert? Seine Leidenschaft, seine Verlorenheit, die tiefen Gründe seiner Existenz? Gerhard Moll war sensibel, das schon. Aber mehr noch: Er war ein Künstler. Dem Expressionismus fühlte er sich auch deshalb verbunden, weil er darin, mal abgesehen von der Auflehnung gegen das biederliche Zwangsprogramm der Gedankenkontrolleure – weil er darin den Vitaminschub erkannt hatte. Den Aufbruch zu neuen Formen der Kunst.
Seit Anfang 2020 hängt das Gemälde dort, wo es seinen Ausgang genommen hat: in Stralsund, in der Universitätskirche des Krankenhauses West. Angekauft von einem Förderverein, finanziert durch Spenden, das beklemmende Dokument einer Zeit, in der alles Menschliche verloren zu gehen drohte. Aber es markiert darüber hinaus auch eine Position im Diskurs der Kunst. Er habe seinen Zusammenbruch nur simuliert, soll Moll später seiner Lebensgefährtin gestanden haben – wohl, um sich mit einer gesunden Reaktion aus seiner kranken Umgebung abzusetzen. Ein junger Arzt durchschaute das Spiel und ließ ihn trotzdem gehen. Oder gerade deshalb? Einerlei: wehruntauglich, freigestellt vom Kriegsdienst. Wieder mal Glück gehabt?
Kunst kommt von Kunst. Auch ein Gerhard Moll ging aus ihren Kreisen hervor; dem Maler Wolfgang Frankenstein und dem Bildhauer Waldemar Grzimek war er schon an der Berliner Akademie begegnet – sie behielten einander wohlwollend im Auge, reisten gemeinsam, Stichwort: Hiddensee, kritisierten einander, tauschten Gedanken aus über die Kunst und blieben Weggenossen fürs Leben. Und auch, wenn Frankenstein in seinen Erinnerungen notierte, Moll habe nach den traumatischen Erlebnissen eine Neigung entwickelt, sich zu verbarrikadieren, auch wenn er beobachtet hatte, dass immer wieder Bitterkeit und Sarkasmus die aufgetürmte Sehnsucht des Freundes nach Schönheit und Romantik durchzuckte und ihre Berechtigung in Frage stellte – es ging ihnen ja allen so! Wie anders konnte einer dem gerade überwundenen und nie ganz zu löschenden Grauen begegnen als durch Spott, abstrakte Malerei und absurdes Theater?
Kunst ist auf solchen Austausch angewiesen. Moll wusste und beherzigte das. Nach dem Krieg suchte, fand und hielt er den Kontakt. Freund Frankenstein führte ihn ein in die Kreise der Berliner Galerie Gerd Rosen, in der Künstler wie Heinz Trökes, Werner Heldt und Hans Uhlmann den Anschluss an den Diskurs einer internationalen Avantgarde suchten. Kurt Henschel, Hans Thiemann und Katja Meirowsky, Alexander Camaro, Hans Laabs und Mac Zimmermann: Sie erlebten ja nicht nur den Schockzustand einer jäh aufgerissenen Freiheit. Sie erkannten auch ihre Chance. Aufbruch! Die Kultur ihrer Heimat war durch den Terror der Diktatur ausgehöhlt und gedemütigt worden – nun konnten, nein: mussten sie die intellektuelle, moralische und ästhetische Leere neu ausfüllen.
Werke von Pablo Picasso und Henri Matisse sollten dabei helfen. Paul Klee und Raoul Hausmann wurden ausgestellt, Ernst Ludwig Kirchner, Marc Chagall und Fernand Léger. Surrealismus und Abstraktion, Kubismus, Expressionismus, das, was zuvor als „entartet“ aussortiert worden und das, was in freierem Klima daraus hervorgegangen war. Dazu unternahmen sie Grenzgänge auf benachbarte Felder der Kunst: zu Musik und Tanz, zur Literatur, zur Lyrik. Theater war auch dabei, das Künstlerkabarett „Die Badewanne“, oft lustig, spöttisch, humorvoll, aber nicht selten auch sehr ernsthaft darum bemüht, die neuen Beziehungen auszuprobieren, Grenzen zu überwinden. Respektlose Kurzopern, getanzte Gemälde, spontane Improvisation. Es galt, so vieles nachzuholen. Und so vieles war neu zu erobern.
Die Vielfalt dieser Begegnungen und Auseinandersetzungen dokumentierte eine erste Einzelschau 1948 in der Galerie Rosen. Moll erkundete die Bedingungen der menschlichen Existenz, die Nachbarschaft von Erotik und Tod, Sehnsucht und Traum, die nervöse Oberflächlichkeit des Großstadtlebens, das ganze absurde Theater. Er nahm sich die kompositorischen Freiheiten des Surrealismus, ließ Vögel über die Bildfläche flattern, Harlekine tanzen, Blumen sprießen und löste sich zugleich aus dem Korsett der Figuration, erkundete vorsichtig tastend Rhythmus und Volumen, das vibrierende Gewicht der Farbe, die Grafik feiner Netzstrukturen.
Die Ausstellung war ein Erfolg, wie Frankenstein sich erinnert. „Und trotzdem“, so notierte er später, „wandte Moll sich wie kein anderer der Gleichgesinnten von der gesellschaftlichen Realität ab.“ Ganz leise und zunächst kaum merklich schien sich der Maler auf eine Flucht vor der Welt begeben zu haben. Doch während der Freund das romantische Element seines Wesens mit milder Nachsicht konstatierte – „seine Schweigsamkeit konnte von herzlichem Lachen unterbrochen werden, oft war sie aber auch von tiefer Traurigkeit“ – erkannte der Kunsthistoriker Jörn Merkert gerade darin den Beleg einer raren, außergewöhnlichen Sensibilität: „Mit einer fast wütenden, bitteren, rücksichtslosen und durchaus auch selbstzerstörerischen Schärfe hat Gerhard Moll wie kein anderer seiner Generation in diesen Jahren des Neubeginns in Berlin sein persönliches Welterleben in Weltbilder übersetzt.“
Gemeint waren natürlich die Weltbilder der zeitgenössischen Kunst. Merkert, als Direktor der Berlinischen Galerie über Jahrzehnte hinweg bestens vertraut mit den Entwicklungslinien im Westen wie im Osten der Stadt, mit den Brüchen und Widersprüchen, die sich nach dem Fall der Mauer im Schaffen der Maler und Bildhauer offenbarten, mit der Konkurrenz um Bedeutung und Gültigkeit – er wusste die Zeichen zu lesen, die Moll aus seiner Zeit herübergeschickt hatte. Man dürfe ihm zwar „eine gewisse Weltfremdheit“ unterstellen, bemerkte der Ausstellungsmacher aus Anlass einer Retrospektive 1993, eine „Sehnsucht nach Leben, romantisch im besten Sinne“ – aber naiv war der Künstler nicht. Politisch nicht und künstlerisch schon gar nicht. Höchstens neugierig. Und immer auch zum Experiment bereit, wenn es galt, die eigenen Möglichkeiten zu erproben.
Anfang der fünfziger Jahre, Frankenstein war in den Osten gegangen, wohl aus Idealismus. Moll folgte ihm, vermutlich eher aus pragmatischen Motiven. Wohnte zwar weiter in seinem Dachatelier in Friedenau, aber fand Arbeit, Auskommen und sogar Herausforderung auf der anderen Seite. Noch war es ja kein Problem, die Grenze zweimal am Tag zu passieren. Und auch im Vergleich der Systeme sah die Alternative gar nicht so übel aus: „Das schlechte Ende widerlegt nicht einen möglicherweise guten Anfang“, urteilte der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, selbst ein Pendler zwischen Ost und West, im Rückblick über das Projekt eines Turmbaus zu Babel. Und tat es in einer Emphase, die offenbar den Geist der alten Zeiten wiedergibt: „Der einzelne handelte so, dass seine Tätigkeit gleichgerichtet war den Wünschen und Hoffnungen auf ein besseres und neu strukturiertes Gemeinwesen. Demokratisch und antifaschistisch.“
Na, Moll probierte es mal aus. Es lief gar nicht schlecht. Er wurde Meisterschüler bei Heinrich Ehmsen an der Ost-Berliner Akademie der Künste, arbeitete später dort als Assistent. Hatte sich zuvor, 1951, mit zwei Bildern, „Die Vietnamesen werden von den Franzosen begrüßt“ und „Die Friedenstaube“, an der Ausstellung „Künstler schaffen für den Frieden“ in den Staatlichen Museen Am Kupfergraben beteiligt – warum auch nicht? Er habe es aus Freude getan, versicherte die Lebensgefährtin Jutta Zimmer später. Die sozialistischen Weltfestspiele der Jugend wurden in der Stadt abgehalten; da war überall buntes Leben. „Gegen den Frieden ist ja auch nichts zu sagen. Und die Ateliermiete, die schon wieder im Rückstand war, sollten wir auch nicht vergessen.“
Mit den Konsequenzen indes hatte er nicht gerechnet.
Die Künstlervereinigung „Der Ring“, an deren Gruppenschau im West-Berliner Haus am Waldsee er im selben Jahr noch teilnehmen durfte, warf ihn hinaus. Andere Institute schlossen sich an: Moll wurde geschnitten. Ein Westkünstler, der sich mit den Programmen der Kulturbürokratie im Osten gemein macht. Dass die „Friedenstaube“ bei der Kritik in den Verdacht der Ironie geraten war – einerlei! Es herrschte Kalter Krieg. Und es war ja nicht so, dass es Intoleranz und ideologische Engstirnigkeit nur auf der anderen Seite der Mauer gegeben hätte.
Das Gastspiel im staatlich kontrollierten Kunstbetrieb dort drüben sollte sich über ein Jahrzehnt hinziehen. Es war ja eine spannende Zeit. Weichen wurden gestellt, die Kultur neu bewertet, definiert und ausgerichtet. Systeme traten in den Wettstreit. Wem gehörte die deutsche Renaissance? Wem der Expressionismus, die Neue Sachlichkeit? Zu wessen Erbe zählte ein Thomas Müntzer? Und wer durfte die Reformation eines Martin Luther als Gründungsmythos beschwören?
Der Maler: mittendrin, aber begabt mit Blick von außen. Glück gehabt. Das Programm einer Kunst war zu befragen, die von der Politik mit respektvoller Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen wurde, mit Stolz gefördert, als machtvolles Medium erkannt, kommentiert, nicht immer von denen, die etwas davon verstanden, und bald auch ausgenutzt, gegängelt und korrumpiert. Aber wenn die Künstler des Landes ihre Leistungsschau zusammenstellten, dann machte sich Walter Ulbricht persönlich auf den Rundgang. Der Staatsratsvorsitzende der DDR inspiziert die Werke der Kunst: Das war doch eine Geste. Das war ein Beweis.
Wandbilder galten als besonders effektive Transportmittel politischer Ideen. Picasso hatte es vorgemacht. Seine wandfüllende „Guernica“, 1937 gemalt als wütende Anklage gegen Krieg und Faschismus, zugleich als Mahnung für alle Zeiten – jeder hier kannte und bewunderte das Jahrhundertwerk. Die Revolutionsmaler Lateinamerikas, allen voran Diego Rivera, waren Gegenstand einer weite Kreise ziehenden Diskussion über die Rolle der Kunst in der Gesellschaft, über ihre Potenz als Instrument der Politik, über die Freiheit, ihren Zweck und die Gefahr, vor lauter Taumel abzugleiten in Beliebigkeit.
Der Gast aus dem anderen Teil der Welt hörte zu, schaltete sich ein – und bekam Einladungen, sich an Projekten dieses neuen Genres zu beteiligen: zunächst an einem Wandbild am Kulturhaus Hessenwinkel, gemeinsam mit dem Freund Wolfgang Frankenstein, später mit Vera Singer an der Stirnwand einer Schule in Treptow und im Generatorenwerk VEB Bergmann-Borsig in Wilhelmsruh. Die Kunst stellte sich in den Dienst der Ideologie, und die Titel verraten, wie bereitwillig sie es tat: „Kinder aller Hautfarben spielen zusammen“, „Karl Liebknecht spricht zu den Arbeitern“…
Und Gerhard Moll? War er nicht ein ganz passabel geöltes Rädchen in diesem Getriebe? Nein, so sah er sich gewiss nicht. Er war Teilnehmer eines engagierten, ja freudig geführten Diskurses, in dem eine ganze Generation junger Künstler die Pflichten und Verheißungen ihrer Arbeit reflektierte, die beflügelnde Freiheit, die gesellschaftliche Verantwortung, ihre historische Chance. Und nicht viele, auch das wird ihm bewusst gewesen sein, hielten sich dabei so konsequent an das Gebot der Offenheit wie er. Da stecke immer noch viel zu viel NS-Malerei im staatlich verordneten Bildprogramm des Sozialistischen Realismus – so haute er es den Funktionären auf dem Künstlerkongress zur „Dritten Deutschen Kunstausstellung“ 1953 in Dresden um die Ohren. Zu viel Selbstzensur, zu viel verdruckste Mutlosigkeit, zu viel platte Propaganda. Man stelle sich das nur mal vor: ein Künstler aus dem Westen, der sein Brot in Ost-Berlin verdiente, Meisterschüler an der dortigen Akademie, ein Nutznießer des Systems. Aber die Freiheit nahm er sich.
Und was noch wichtiger ist: Sie wurde ihm auch gegeben.
Bis zum 13. August 1961. Dann war da die Mauer, die niemand zu bauen beabsichtigt hatte. Und Moll fand sich zurückgeworfen auf seine Insel West-Berlin. Eine Katastrophe? Für den Lauf der Geschichte: ohne jeden Zweifel. Jetzt herrschte wirklich Kalter Krieg. Sein Ende sollte Moll nicht mehr erleben. Für die Künstler der DDR: absolut. Von nun an malten sie in die Vorgaben eines Systems hinein, aus dem kaum einer in Würde herauskam. Flucht oder Arschloch, wie der aus Sachsen in den Westen übersiedelte Maler Georg Baselitz es den Dagebliebenen später vorhielt. Das waren ihre Optionen. Aber kein Platz auf dem Siegertreppchen der Kunstgeschichte blieb ihnen reserviert, nicht mal eine Stimme im Diskurs der folgenden Jahrzehnte. Eine Katastrophe für die Künstler im Westen? Kaum weniger. Sie erlebten eine Rezeption ihrer Arbeit, die vom Markt gesteuert war, vom Wettbewerb um Geld und Aufmerksamkeit. Und passten sich dem an. Willig, notgedrungen, finanziell erfolgreich.
Moll aber, der so plötzlich Ausgeschlossene, bewohnte immer noch sein Atelier in Friedenau. Einen soliden Vorrat an Fragen und Ideen hatte er sich seit Jahren zusammengetragen – bei den Surrealisten, den Tachisten, Realisten, Kubisten und Expressionisten, bei den jungen Künstlern seiner Zeit, mit denen er gemeinsam den Aufbruch vorbereitet hatte. Literatur und Theater, Zeichnung, Malerei und Skulptur, Tanz und Musik, gutes und reichhaltiges Material. Bis zum Ende seines Lebens sollte es ausreichen zur Formulierung eigener Konzepte und Gedanken. Kunst kommt eben immer von Kunst. Hin und wieder würden neue Impulse hinzukommen. So hatte er bislang zwischen den Arbeitstagen am Programm der Arbeiterpartei seine persönliche Mythologie weiterentwickelt, sirrende Insekten, Harlekine, Fabelwesen mit gefletschten Zähnen. Hatte die komplexe Architektur seiner Kompositionen ausbalanciert und fließenden Farben ihre Autonomie gelassen, hatte filigrane Netze geknüpft, Brücken konstruiert und zunächst vor allem in seinen Aquarellen neue, ganz eigene Harmonien, Rhythmen und Akkorde zum Klingen gebracht.
Und so sollte es auch künftig bleiben. Nach den Jahren der gemeinsamen Entdeckungen und der Inspiration wählte er nun die Einsamkeit. Das Atelier über den Dächern blieb ihm Ort genug, die Welt fand in seinem Kopf statt, in Erinnerung und Imagination. Sich dem Rat und der Fürsorge einer Galerie unterordnen? Wozu? Das Radio lief, die Bilder waren schon da. Er musste sie nur noch in seinen Skizzen einkreisen, tagsüber, und sie dann zu fassen kriegen, am liebsten nachts, wenn die Sterne leuchteten und die Kollegen hinaufschauten, ob hinter seinem Fenster noch Licht brannte.
„Ein eigentümliches Werk!“, entfuhr es dem Spurensucher Jörn Merkert einmal. „Das alles ist sehr privat, sehr persönlich, sehr verschlüsselt. Und zugleich sehr direkt, unverstellt und schutzlos.“
Mag sein, dass dieser Gerhard Moll bisweilen traurig war. Aber unterm Strich hat er wirklich Glück gehabt.